Feine Hilfen Juni 2015: Zur Psychologie des Reitpferdes
Es kommt darauf an
Den Pferden in die Seele geschaut: Zur Psychologie des Reitpferdes
Ulrike Bergmann hat Ausschnitte eines Wochenendseminars von Wolfgang Marlie protokolliert, mit Marlie über die Psyche der Pferde gesprochen – und dabei auch erfahren, was Menschen von Pferden lernen können
Artikel als PDF: Feine Hilfen April 2015, Schwung ist Liebe
„Für mich gibt es keine schwierigen Pferde. Es gibt nur Pferde in Schwierigkeiten.“ Wie er zu dieser Erkenntnis kam und was er in mittlerweile 60 Jahren Arbeit mit Pferden gelernt hat, demonstriert Wolfgang Marlie (75) in seinem Wochenendseminar „Den Pferden in die Seele geschaut: Zur Psychologie des Reitpferdes“. Ulrike Bergmann hat Ausschnitte des Seminars protokolliert, mit Marlie über die Psyche der Pferde gesprochen – und dabei auch erfahren, was Menschen von Pferden lernen können.
Es sind nicht viele Grundsätze, die Wolfgang Marlie seinen 14 Seminarteilnehmern verkündet. Aber einer ist für den Ausbilder (Lieblingsantwort: „Es kommt darauf an.“) in Stein gemeißelt: „Das Einzige, was ich im Umgang mit Pferden können muss, ist Treiben. Artgerechtes, fürsorgliches Treiben. Wer das kann, kann bis zum Grand Prix alles reiten.“
Die Seminarteilnehmer sitzen auf Gartenstühlen am Rand des Reitplatzes und man sieht einigen ihre Gedanken förmlich an: „Wenn es mal so einfach wäre ...“ Die erste Aufgabe für die Schüler scheint wirklich ganz einfach: genaues Beobachten. Marlie hat zwei Pferde auf den Platz geholt: Schimmelpony „Jacky“ gehört seit einer Weile zu den Schulpferden seines Hofs, Fuchsstute „Lissa“ ist erst drei Tage zuvor dort angekommen. Auf einem abgeteilten Zirkel lernen sich die beiden Pferde kennen. „Lissa“ ist so rossig, wie es eine um Aufnahme in die Herde buhlende Stute nur sein kann. „Jacky“ beschnuppert sie an der Schweifrübe, flehmt, stampft mit den Vorderbeinen und bespringt sie immer wieder. Marlie: „Was meint ihr? Ist das Pony eine Stute oder ein Wallach?“ Eine Zuschauerin lacht auf: „Wohl eher ein Hengst.“ Die anderen nicken, der klärende Blick unter die Schweifrübe scheint gar nicht nötig, „Jacky“ benimmt sich wie ein männliches Tier. Umso größer die Überraschung, als auf den zweiten Blick klar wird, dass das Pony eine Stute ist. Marlie: „Dass ‚Jacky‘ unter etwas mehr Testosteron steht als üblich, wusste ich. Dass sie so machomäßig werden kann, ist mir auch neu.“
Dann stellt er eine Futterschüssel in die Mitte des Zirkels – und die eben noch umworbene „Lissa“ wird zur Konkurrentin. Mit zurückgeklappten Ohren treibt ‚Jacky‘ die größere Stute von der Schüssel weg, frisst und dreht ihr das Hinterteil entgegen. Mit vollem Maul kauend hebt sie immer wieder einen der Hinterhufe, bis die Schüssel leer ist. Erst anbaggern, dann wegschicken – es kommt eben immer darauf an, welches Interesse oder Bedürfnis gerade in den Vordergrund rückt. Marlie: „Pferde konkurrieren um drei Dinge: um Platz, um Futter und um Partner. Dabei tauschen sie nur zwei Botschaften miteinander aus: Entweder sie treiben sich oder sie laden sich in die Ruhe ein, machen zusammen Pause. Hier konnte man sehen, wie schnell sich die Bedürfnisse von ‚Jacky‘ verändert haben, als das Futter ins Spiel kam. Mit solchen sekündlichen Stimmungsschwankungen muss ich beim Umgang mit Lebewesen natürlich immer rechnen.“
Einer der beiden männlichen Kursteilnehmer fragt, was denn dann das Kennenlernen gewesen sei: „Treiben oder Einladen in die Pause?“ Marlie: „Beides. In jeder guten Beziehung ergänzt man sich gegenseitig. Wenn wir einkaufen gehen, führt bei uns immer meine Frau. Wenn wir eine Spinne in der Wohnung haben, ist sie ganz froh, wenn ich aktiv werde. Als sich hier eben die Situation durch die Futterschüssel änderte, wechselte ‚Jacky‘ von der Nähe ins Treiben, ins Auf-Abstand-Bringen.“
Ein weiteres Schulpferd, Wallach „Shaolin“, wird auf den Platz geholt. Stute „Jacky“, knapp 20 Zentimeter kleiner und eher zierlich, schirmt „Lissa“ gegen den großrahmigen Oldenburger ab. Mit angelegten Ohren hält sie ihn auf Abstand, schießt mit geöffnetem Rachen auf ihn zu, wenn er sich nur ein Schrittchen zu weit an „Lissa“ heranwagt. Marlie erklärt: „Ich höre von meinen Schülern oft, dass sie sich im Verhältnis zu Pferden zu klein und schwach fühlten. Hier sieht man, dass man auch Eindruck machen kann, wenn man kleiner ist als der andere. Das ist ein bisschen wie bei manchen Kartenspielen. Gut geblufft ist halb gewonnen.“ Später zeigt er den Schülern ein Video, in dem sogar ein Shetlandpony einen großen Warmblüter im Kampf um eine Stute aussticht.
DER FELS IN DER BRANDUNG
Zurück auf den Reitplatz: Als Marlie die Futterschüssel wieder auffüllt, gerät „Jacky“ in Stress. Je nachdem, wo „Shaolin“ gerade versucht, Besitzansprüche anzumelden, schmeißt sie sich dazwischen. Mal zwischen das Futter und den Wallach, mal zwischen ihn und „Lissa“. Dann kommt noch ein Pferd dazu. Wallach „Justy“, ranghöchstes Mitglied in Marlies Schulpferdeherde. Auch ihn versucht das immer mehr kreiselnde Pony sowohl von der Stute als auch der Futterschüssel fernzuhalten, keilt auch nach ihm aus – aber im Gegensatz zu „Shaolin“ schlägt „Justy“ zurück. Kurz, trocken, ohne einen Zentimeter zu weichen zielen seine Hinterhufe auf das schmale Pony. Als „Jacky“ gegenhält, greift Marlie ein und treibt die beiden auseinander. Während „Justy“ daraufhin Richtung Futter schlappt, ist „Jacky“ völlig außer sich: Sie rast über den Platz, wiehert und versucht immer wieder, an „Lissa“ heranzukommen. Die hat sich aber längst „Justy“ zugewandt und weicht ihm nicht von der Seite.
Eine Teilnehmerin fragt, warum Marlie „Jacky“ und „Justy“ auseinandergetrieben beziehungsweise warum er zu diesem Zeitpunkt eingegriffen habe. Er erklärt: „Das Pony hätte gegengehalten, auch wenn der Wallach es zum Krüppel gedroschen hätte.“
Dann weist er seine Schüler auf das Verhalten von „Lissa“ hin: Je mehr das Pony die Kontrolle verlor, desto mehr drängte die rossige Stute zu dem souveränen Wallach. „Der macht kein Getöse, sondern regelt, was zu regeln ist, und geht seiner Wege.“ Zum Beispiel in Richtung Futter. Ein bisschen wie der Fels in der Brandung, an dem der Amoklauf des Ponys mehr oder weniger abprallte. Marlie: „Dieses Prinzip, das beharrliche Verteidigen des eigenen Standpunkts, nutzt beispielsweise der Elektrozaun. Er steht einfach da, greift niemanden an, aber er verteidigt seine Position und weicht keinen Zentimeter zurück. Als diese Zäune eingeführt wurden, gab es einen riesigen Aufschrei, man fürchtete Verletzungen und traumatisierte Pferde. Heute wissen wir, dass Pferde mit der Berechenbarkeit dieser Zäune wunderbar zurechtkommen. Sie gehen zum Grasen bis auf einen Zentimeter an ihn heran und haben offenbar verstanden, dass er solange harmlos ist, wie sie minimalen Abstand halten. So berechenbar wie der Elektrozaun zu sein, schafft beides, Respekt und Vertrauen. An dieser Berechenbarkeit versuche ich mich bei der Arbeit mit Pferden immer zu orientieren. Mein Vorteil als Mensch ist, dass ich das Pferd mit sanfteren Methoden, beispielsweise dem Bedrängen, beeindrucken kann.“
SIND WIR BERECHENBAR?
Später diskutiert die Gruppe darüber, was Berechenbarkeit bedeutet – und stellt schnell fest, wie unberechenbar Menschen für Pferde oft sind: Schnalzen oder leichter Schenkeldruck bedeutet für viele Pferde, dass sie losgehen, sich in Bewegung setzen sollen. Es sei denn, der Schenkeldruck entsteht versehentlich beim Angeln nach dem Steigbügel (dann wird das Pferd durch Zug am Zügel sogar zum Stehenbleiben aufgefordert) und der Schnalzer ist gar kein Schnalzer, sondern ein Husten ... Marlie lacht: „Die Pferde müssen immer raten, was gerade gemeint ist. Da entstehen fast zwangsläufig Missverständnisse, schon weil wir es nicht gewöhnt sind, so einfach zu denken wie ein Pferd.“
Der Großteil seiner Arbeit mit scheinbar schwierigen Pferden sei deshalb das Auflösen von Missverständnissen: „Ich erkläre ihnen meine Art, mich auszudrücken. Das Heben der Hand ist beispielsweise das Signal für das Pferd zu gehen. Als Erklärung nehme ich beispielsweise meine Mütze vom Kopf und werfe sie in Richtung Pferd. Das ist ein bisschen verblüfft, versteht nicht, geht aber sicherheitshalber weg. Ich habe es von mir weggetrieben. Nach ein paar Versuchen geht es schon, wenn ich nur nach meiner Mütze greife.“ Mit seinem Herdenchef „Justy“ demonstriert Marlie später das, was er die Grundkommunikation mit einem Pferd nennt. Auch die Schüler versuchen sich darin, mit „Justy“ in den Dialog zu treten. Die Basis bildet das Beispiel mit der Mütze: Marlie erklärt ihm Signale für Gehen und Kommen, für Treiben und für die Einladung in die Ruhe. Mal im Schritt, mal im Galopp schickt er ihn mit Handzeichen, den Signalen, über den Platz: „Die Signale sind nicht selbst erklärend, sie müssen immer mal wieder durch ein Motiv, einen Grund dafür, dass man besser ausweicht, erklärt werden.“ So lernten Fohlen von ihren Müttern, dass nach dem Anlegen der Ohren etwas Unangenehmes passiere, für das Fohlen eine Einschränkung der Behaglichkeit folge. „Deshalb weichen sie irgendwann schon zurück, wenn die Ohren nur nach hinten deuten, lange bevor die Mutter sie im Zweifel weg stupst oder wegzwackt.“
ANGST ODER LEBENSFREUDE?
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