Cavallo: Reitschul-Test Juli 2005
Bei Wasser und Brot
Die Insel des Reiterglücks liegt im Klingberger Wohngebiet. Hinter dunklen Tannen versteckt sich unter Efeuranken ein schmuckes Klinkerhaus, im Tal strahlt der weißgetünchte Stall. Dort treffe ich einen jungen Kerl um die 20, hochgewachsen, die dünnen Beinchen in eine grasgrüne Reithose gehüllt. „Ich bin Sascha", sagt er und blickt mir fest in die Augen. „Ich werde in der nächsten Stunde für Sie da sein." Fehlt nur noch der Handkuß, denke ich und klappe den Mund wieder zu. So viel Höflichkeit erlebe ich selten bei der Ankunft in einer Reitschule.
Pferd und Reiten Die Reiterpension Marlie ist eben eine Welt für sich. Vor 25 Jahren hatte Chef Wolfgang Marlie die Nase voll vom rüden Reitstundenton und setzte sich ab. Lange vor allem Pferdegeflüster entwickelte er sein Unterrichtskonzept für netten Umgang mit Mensch und Tier und bildet heute beide feinfühlig entlang der klassischen Ausbildungsskala aus.
Zu Marlie kommen Pferde und Reiter aus ganz Europa. Viele haben Stürze und Wunden hinter sich, fangen bei ihm wieder vorne an. Das soll ich auch. „Was ist dein Problem?" fragt Sascha. „Ich kann so schlecht Trab aussitzen", gebe ich vor. „Mußt du das denn?" Eigentlich hat er recht. Warum soll ich mich quälen, in schweißtreibenden Reitstunden auf unbequemen Pferden? „Weil die FN es verlangt", antworte ich wachsweich auf Saschas Frage. Er schmunzelt und will sich meinen Sitz anschauen.
Später throne ich auf Juniora, einer riesigen schwarzen Holländerstute. „Laß erstmal die Zügel lang, schlag die Bügel über und fühl dich ein", sagt Sascha.
Juniora kreist brav in der einen Hälfte der Halle, die mit einem Seil abgeteilt ist. Dort sitzt Sascha und paßt auf mich auf. In der anderen Hälfte unterrichtet Wolfgang Marlie. Nach ein paar Runden nehme ich die Bügel auf und trabe leicht. Anfangs finde ich Junioras Rhythmus nicht und kippe mit dem Oberkörper nach hinten. Sascha hilft: „Du hast die Hacken zu tief." Wie bitte? Ungläubig starre ich ihn an. Seit Jahren höre ich im Unterricht immer wieder „Hacken runter".
Sascha erklärt: „Wenn die Fersen zu tief sind, kippt dein Gewicht nach hinten. Stell dir besser vor, du stehst auf den Fußspitzen. Dann wird deine Sohle gerade, und du kannst dich mehr ausbalancieren." Zum Üben trabe ich im leichten Sitz und bleibe ein paar Tritte lang
über Junioras Rücken stehen, bis ich meine Balance gefunden habe. „Wenn du unsicher wirst, stell dir vor, du hast eine Erdbeere zwischen Bein und Sattel. Die mußt du mit dem Knie festhalten, darfst sie aber nicht zerquetschen." Mein Sitz wird immer stabiler. Endlich mal ein Lehrer, dessen Wortschatz über übliche Plattitüden hinausgeht.
Allein für dieses Aha-Erlebnis verdient Sascha drei Hufeisen, außerdem für seine Höflichkeit und für alle weiteren Tips, die ich mir tief in mein Reiterhirn einpräge.
Das gilt auch fürs Aussitzen. Andere Reitlehrer sagen: „Machen Sie sich mal schwer im Sattel." Sascha erklärt: „Der Trab ist kein Auf und Ab, sondern wie der Schritt eine rollende Bewegung. Bei jedem Trabschritt rollst du dein Becken mit den Bauchmuskeln zum Nabel und dann wieder nach hinten."
Mein Becken rollt fleißig zum Nabel und wieder zurück
Ich kreise die Hüften, und es hilft: Oberkörper und Beine bleiben ruhig, mein Becken verschmilzt zu einer Einheit mit Junioras Rücken. So vergeht der Unterricht - eine Sitzschulung par excellence: Sascha arbeitet konzentriert mit mir genau daran, worum ich ihn gebeten hatte.
Auch die schwarze Juniora arbeitet brav mit. Geduldig läuft sie ihre Bahnen, ist nur über Stimme zu regulieren und gibt mir die Möglichkeit, auf meinen Sitz zu achten. Dafür bekommt auch sie drei Hufeisen.
Weitere drei Hufeisen gebe ich der gepflegten Anlage mit Halle, großen, hellen und halbhohen Boxen sowie Außenplatz in Ostseenähe. Die Pferde dürfen jeden Tag auf die Weide: Wolfgang Marlies' 13 Schulpferde waren ausnahmslos Problemfälle, die er wie Juniora zum Reitpferd ausbildete. Jedes ist nun sicher mit Sidepull zu reiten. Trensenzügel bekommt bei Marlie nur der Reiter in die Hand, der schon balanciert sitzen kann. Pensionsboxen gibt es keine; Marlie benötigt den Platz für Kursteilnehmer. 31 Euro kostet die Einzelstunde bei Sascha, der auf dem Hof aufgewachsen ist und hier für seine Ausbildung zum Pferdewirt praktische Erfahrungen sammelt. Das ist ein angemessener Preis für hervorragenden Unterricht auf einem feinen Schulpferd in dieser Oase fernab öden Reitschulalltags: drei Hufeisen für das Preis-Leistungs-Verhältnis.