Pegasus: Ausgabe Mai 2005

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Reitunterricht als Teamwork

"Gutes Reiten ist wie von Zauberhand bewegt" - unter diesem Motto steht der ungewöhnliche und effektive Unterricht in Wolfgang Marlies Reiterpension. Franziska Löffler hat den Reitlehrer und sein Team beider Arbeit beobachtet.

Die junge Frau zieht verdutzt die Augenbrauen hoch: "Und wie soll ich jetzt anhalten?" Wolfgang Marlie hat ihrer braunen Stute gerade die Trense abgenommen. " Im Moment stehen Sie ja", gibt er zur Antwort. "Kaimah wird nicht schneller laufen, als Sie sie dazu auffordern, und wenn Sie aufhören zu treiben, wird sie langsamer. Sie brauchen also gar keine Bremse." Eine halbe Stunde später steigt die Reitschülerin strahlend vom Pferd. "So intensiv habe ich noch nie gespürt, wie ein Pferd auf mich reagiert und wie sensibel es sein kann!" Der Reitlehrer erklärt den wie so oft zahlreich anwesenden Zuschauern den Sinn der übung. Meistens muss ein Reiter auf viel zu viele Dinge auf einmal achten: Er soll seine Hände und Beine ruhig halten, gerade sitzen und gleichzeitig geschmeidig mit der Bewegung mitgehen. Gleichzeitig muss er dem Pferd verständlich machen, in welcher Gangart und in welche Richtung es sich bewegen soll, dass es am Zügel gehen, sich stellen, biegen und versammeln soll. Da kommt schnell Stress auf, zumal der Schüler vielleicht auch noch mit dem Gleichgewicht oder Gefühlen wie Unsicherheit und Angst zu kämpfen hat - und unter Stress lässt es sich schlecht lernen. 

"Ich greife mir deshalb einzelne Elemente heraus und lasse sie separat üben. In diesem Fall ging es um das Treiben. Wir haben die Rahmenbedingungen, einen eingezäunten Teil des Reitplatzes, so organisiert, dass die Reiterin sich nicht um das Lenken oder Bremsen zu kümmern brauchte - wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment, bei dem alle störenden Einflüsse ausgeschaltet werden, um einen ganz bestimmten, isolierten Zusammenhang zu untersuchen.


So konnte die Reiterin sich ganz auf das Treiben konzentrieren und hatte genügend Zeit und Ruhe, die Reaktionen des Pferdes zu er-spüren. " Wir befinden uns auf der Anlage der Reiterpension Marlie, einem Reit- und Ferienbetrieb in Klingberg in der Holsteinischen Schweiz. Ursprünglich kamen die Gäste wegen der schönen Ausritte an den nahen Ostseestrand auf den Hof, doch das ist lange her.

"DAMALS WAR DER REITUNTERRICHT EINE QUAL"

Vor etwa 25 Jahren war Wolfgang Marlies Unzufriedenheit mit dem herkömmlichen Reitschulbetrieb so gross geworden, dass er beschloss, alles ganz anders zu machen. "Damals war der Reitunterricht für mich eine Qual", berichtet der drahtige 62-Jährige. "Die meisten Schüler mühten sich vergeblich, ich konnte ihnen nicht wirklich weiterhelfen und die Pferde waren auch nicht glücklich. Für mich war klar: Entweder ich finde ganz andere Möglichkeiten, mit Menschen und Pferden umzugehen oder ich hänge den Beruf an den Nagel." Letzteres tat er zum Glück nicht, aber es war - vor allem am Anfang - kein leichter Weg, der den Betrieb fast in die Pleite führte. Denn als der Chef zu experimentieren begann - zum Beispiel ritt er selbst zwei Jahre lang nur mit hingegebenem Zügel - hielten ihn die meisten Leute für verrückt. Viele Stammgäste blieben weg, denn von alternativen Reitweisen, Pferdeflüsterern oder einem partnerschaftlichen Umgang mit dem Pferd hatte damals noch kaum jemand gehört. Mangels Vorbildern war er auf eigene Ideen angewiesen, probierte alles Mögliche und lernte von den Pferden - Anregungen von Leuten wie Pat Parelli oder Linda Tellington-Jones kamen erst viel später dazu.


"Ich war anfangs sehr radikal, vieles würde ich heute so nicht mehr machen. Aber gerade durch die Fehlversuche und Irrwege habe ich unglaublich viel gelernt."

KLASSISCH, ABER NICHT KONSERVATIV

Und was kam dabei heraus? Keine neue Methode oder Reitweise, wie viele glauben, wenn sie das ungewohnte Treiben in der Marlieschen Reithalle zum ersten Mal erleben. Auch hier orientiert man sich an den klassischen Reitlehren, wie sie zum Beispiel bei Steinbrecht oder in den Richtlinien der FN beschrieben werden. Aller-dings sind im hiesigen Unterricht selten trockene Lehrsätze und niemals Standardanweisungen wie "Hacken tief" oder "mehr an den Zügel stellen" zu hören. Hier werden keine Techniken nach Schema F vermittelt: Dem Reitlehrer ist wichtig, das seine Schüler verstehen, warum ein Pferd in welcher Situationen so oder so reagiert. Und er will sie in die Lage versetzen, Probleme selbstständig zu lösen.
Absolute Wahrheiten, allein selig machende Methoden und Guru-Verehrung sind ihm ein Gräuel. Unterstützt wird er dabei seit gut zwan-zig Jahren von seiner Mitarbeiterin Reger. Der Reitlehrerin liegt vor allem am Herzen, die klassische Reitlehre für Otto Normalverbraucher verständlich zu machen. Am liebsten ist ihr, wenn Reiter und Pferd zusammen weiterkommen: Wenn also zum Beispiel jemand lernen will, wie man ein eiliges Pferd beruhigen kann, versucht sie, ihm dafür ein eiliges Pferd zur Verfügung zu stellen und erarbeitet gemeinsam mit ihm die Lösung des Problems. Reizvoll ist für sie, dass inzwischen auch Western- oder Gangpferdereiter den Weg nach Klingberg finden.


"Für mich ist es eine besondere Herausforderung, Anhängern anderer Reitweisen meine Themen - beispielsweise wie ich Takt und Losgelassenheit erreichen kann - nahe zu bringen. Für viele der langjährigen Stammgäste sind die nebenbei vermittelten Lebensweisheiten inzwischen genauso wichtig wie das Reiten.
"Der Zusammenhang zwischen meinem Umgang mit dem Pferd und mit mir selbst ist mir hier im Laufe der Jahre immer deutlicher geworden", berichtet eine Dame, die bereits seit 29 Jahren zu den Marlies kommt. "Bei jedem Aufenthalt habe ich etwas Neues gelernt, und vieles davon kann ich im Alltag anwenden. Zum Beispiel bin ich in meinem Handeln viel konsequenter geworden." Eine Jura-Professorin - bereits seit zwanzig Jahren Stammgast - erzählt, dass alles, was sie über den Umgang mit Menschen gelernt hat, hier auf den Weg gebracht wurde. "Wenn ich meine Studenten wie Pferde behandle - mit Respekt und klaren Ansagen - habe ich am meisten Erfolg! "

SIEBEN ANGLO-ARABER VERERBT

Auch viele der Schulpferde könnte man als "Stammgäste" bezeichnen - denn die meisten tun ihren Dienst hier bis ins hohe Alter: Die Holsteiner-Stute Florida ist beispielsweise ist schon 26 Jahre alt, der 25-jährige Amber geht seit 14 Jahren im Schulbetrieb - und jeder, der ihn zum ersten Mal reitet, ist beeindruckt von seiner unglaublichen Sensibilität.
Eine weitere Besonderheit: Die meisten Schulpferde hat der Betrieb geschenkt bekommen. Nicht etwa, weil sie alt und krank waren. Einige Pferde haben ihm Reitgäste überlassen, die selbst das Reiten aufgeben mussten und sich für ihren Liebling kein besseres Zuhause vorstellen konnten.


Vor Jahren vererbte ein ehemaliger Gast dem Reitbetrieb sieben Anglo-Araber aus eigener Zucht auf einmal. Andere kamen als hoffnungslose Problemfälle auf den Hof: Verrittene, verdorbene oder bösartig gewordene Pferde aus Profiställen oder privater Hand. Allein im letzten Jahr fanden auf diese Weise drei junge, gesunde Pferde den Weg nach Klingberg. 
Sie lernen nun, wieder Vertrauen zum Menschen und seinen Handlungen zu fassen. An diesem Prozess haben auch interessierte Reitschüler teil. Eine grosse Rolle spielt dabei die Bodenarbeit mit dem frei laufenden Pferd. Gerade bringt die Praktikantin eines der neuen Pferde, den fünfjährigen Wallach Stern in die Bahn. Fasziniert beobachten die Zuschauer, wie sie den zunächst ziemlich übermütigen Wallach nach kurzer Zeit mit Hilfe von Körpersprache, Gerten- und Stimmsignalen erstaunlich genau in allen Gangarten und Richtungen durch die Halle dirigiert. Wenn sie ihn nicht mehr treibt, kommt er vertrauensvoll zu ihr und folgt ihr, wohin auch immer sie sich bewegt.

"Beim Frei-Laufen lerne ich so viel über das Pferd, weil es völlig ungehindert und da-mit wesentlich deutlicher auf mich reagieren kann", beschreibt sie anschliessend ihre Erfahrung. Sie ist beeindruckt davon, wie deutlich der Wallach sein Vertrauen und sein Bedürfnis nach Nähe, aber auch seine Ablehnung oder Angst ausdrückt: "Haben Sie schon einmal versucht, Ihr Pferd zu satteln, wenn es unangebunden frei in der Halle steht?


Da werden Sie schnell merken, ob es sich auf das Geritten-Werden freut oder lieber das Weite sucht, wenn es die Wahl hat." Auch Wolfgang Marlie strahlt, wenn es ihm gelungen ist, jemandem seine Ideen verständlich zu machen. Heute tut er seine Arbeit mit Spass und Begeisterung und lebt damit eine der von ihm postulierten Lebensweisheiten. Man merkt es daran, dass er auch in der letzten Reitstunde an diesem Tag noch voller Engagement dabei ist - erst als der Essensgong ertönt, scheucht er Reitschüler und Zuschauer aus der Halle: "Jetzt aber schnell zum Abendessen, sonst schimpft meine Frau wieder mit mir!" 

Franziska Löffler, Fotos: Khandriche

Lesen Sie hier das Interview mit Wolfgang Marlie.

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